Aufstehen – Zusammenstehen
In Zeiten wie diesen, in denen der Krieg in der Ukraine, die endlose Corona-Pandemie, die globale Klimaerwärmung und die Situation in unseren Kirchen uns immer wieder ohnmächtig erscheinen lassen, möchte ich mir morgens am liebsten die Decke über die Ohren ziehen und einfach im Bett liegenbleiben. Bei Tieren kennt man diesen Mechanismus als Totstell-Reflex.
In der Bibel wird uns von einem ähnlichen Phänomen berichtet: Die Jüngerinnen und Jünger, die Jesus nach dem letzten Abendmahl am Abend der Verhaftung zum Ölberg begleiten, schlafen immer wieder ein. Sie können die Bedrohung und ihre Ohnmachtsgefühle im Angesicht des angekündigten Todes Jesu offenbar nicht anders bewältigen. Wenn weder Flucht noch Kampf möglich sind, hilft nur noch liegenbleiben. Oder?
Doch es gibt auch andere Erfahrungen:
Seit einigen Wochen arbeite ich in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel. Um der Ohnmacht angesichts des Ukraine-Krieges etwas entgegenzusetzen, ist dort im ökumenischen Zusammenschluss der verschiedenen Kirchen ein wöchentlich stattfindendes Friedensgebet mit Taizé Gesängen entstanden. «Not lehrt Beten» sagt der Volksmund. Doch mehr noch zeigt sich: Beten setzt in Bewegung! Aus der Ermutigung des gemeinsamen Betens heraus entwickeln sich Netzwerke. Wenn viele aufstehen und zusammenstehen, entsteht neue Kraft und Kreativität!
Diese Erfahrungen hatten die Basler Kirchen zuletzt im grossen Stil beim Taizé-Jugendtreffen zum Jahreswechsel 2017/2018 gemacht, als es galt, Tausenden von jungen Menschen, die aus ganz Europa anreisten, einen Schlafplatz zu organisieren. Über mehrere Monate gab es jede Woche ein Taizégebet – im Anschluss daran gab es Netzwerktreffen für alle, die mithelfen wollten. Kleinere bestehende Netzwerke konnten immer mehr Menschen zum Mittragen bewegen – und so konnten zum Schluss Schlafplätze für rund 20’000 junge Menschen für fünf Tage gefunden werden. Für alle Beteiligten war dies eine wunderbare und ermutigende Erfahrung. An diese Erfahrungen können wir jetzt anknüpfen. Wir alle haben damals gelernt, was wir bewegen können, wenn wir zusammenstehen und wir haben uns gegenseitig kennen- und schätzen gelernt.
Beim Taizé-Jugendtreffen 2017/18 kamen 2’200 ukrainische junge Erwachsene nach Basel
Damals waren auch etwa 2’200 junge Menschen aus der Ukraine nach Basel angereist. Einige der damals entstandenen Beziehungen halten bis heute. So gab es besorgte Anrufe bei den Gästen von damals: «Wie geht es dir und deiner Familie? Seid ihr in Sicherheit?» Belastend zu erfahren: viele der jungen Männer, mit denen wir damals gemeinsam gesungen und Neujahr gefeiert haben, sind nun diejenigen, die in der Ukraine versuchen, ihr Land zu verteidigen.
Im Friedensgebet höre ich hinter mir, wie eine Ukrainerin alle Taizélieder kräftig mitsingt. Singen überwindet Grenzen und setzt Kräfte frei. Wir wollen nicht ohnmächtig liegen- oder stehenbleiben, sondern etwas tun! Nach jedem Friedensgebet gibt es deshalb, wie damals, einen Austausch. Wie koordinieren wir die private Unterbringung von Geflüchteten in Basel? Wer kümmert sich um was? Wie schaffen wir Anlauf- und Begegnungsorte, das Angebot einer Tagesstruktur? Wo können sich Gastfamilien austauschen und wer begleitet Geflüchtete bei Behördengängen? Wo finden Sprachkurse statt und welche Freiwilligen helfen dabei? Wer organisiert Aktionen mit Kindern und Jugendlichen, um mit der Situation umgehen zu lernen? Und vor allem: Wie können wir die Menschen aus der Ukraine dabei unterstützen selbst tätig zu werden? Denn auch sie suchen nach Wegen, ihre Ohnmacht zu überwinden und die Menschen in der Heimat zu unterstützen.
Da ist z.B. die ukrainische Psychologin, die selbst erst vor wenigen Tagen in der Schweiz ankam und nun bereits Räume nutzen kann, um Selbsthilfegruppen von ukrainischen Frauen zu moderieren und traumatisierten Flüchtlingen zu helfen.
Auch bezüglich Hilfstransporten aus den Gemeinden zeigte sich, was alles möglich ist, wenn Menschen aufstehen, zusammenstehen und unbürokratisch gemeinsam anpacken und helfen, wo es not-wendend ist! Zum Glück geht es aber nicht nur um die Menschen aus der Ukraine, denn die vielen anderen Nöte bleiben ja bestehen. Die vorhandenen Räume der Kirchgemeinden werden wieder mehrt genutzt – es wird lebendiger in den Pfarreien. Wenn ich so Kirche erlebe, gibt mir das viel Hoffnung.
Sylvia Laumen, ktw