Balance finden mit Leib und Seele

Nach der Sommerferienzeit hat der Alltag wieder seine gewohnte Taktzahl aufgenommen. Für manche hat sich diese sogar drastisch erhöht, nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich. Immer beunruhigender werden die Neuigkeiten aus aller Welt. Öfter höre ich Menschen sagen: „Nachrichten? Das mute ich mir bestenfalls noch einmal am Tag zu! “

Fachkräftemangel, Materialengpässe und hohe Krankenstände verursachen in vielen Berufsfeldern enorme Zusatzbelastungen. Hinzu kommt die Sorge um das Geld, um Kinder und Angehörige. Pandemie, Klimakrise, wirtschaftliche Einbrüche: auch wenn wir von Krieg, Hunger und Vertreibung bislang verschont geblieben sind, leben wir in zunehmenden Ungewissheiten. Ob mit oder ohne Familie, ob berufstätig oder im Ruhestand, es trifft uns alle: Preise steigen, Anforderungen wachsen und die Unsicherheit und Sorge um unsere Zukunft. Unsere Welt ist aus den Fugen geraten und damit häufig auch wir selbst.

Balance finden ist unsere Herausforderung. Die Fähigkeit dazu ist von Grund auf in uns angelegt. Denken wir nur daran, welchen Balanceakt wir mit unserer Fortbewegung auf zwei Beinen vollbringen: eine permanente Gewichtsverlagerung. Sie klappt fast immer problemlos. Auch was die Balance von Wachen und Schlafen, Einatmen und Ausatmen, von Bewegung und Ruhe betrifft, haben sich in uns Rhythmen eingespielt. Derzeit geraten sie allerdings schnell mal aus dem Takt. Leib und Seele schicken uns Signale. Diese gilt es zu erkennen und ernst zu nehmen, damit wir nicht in die Gefahr einer dauerhaften Dysbalance geraten. Die Verführung ist gross, einfach im Hamsterrad weiterzulaufen. Nicht nur die Vielzahl äusserer Aufgaben, auch unser grenzenloses mediales Angebot kann schnell zur gefährlichen Ablenkung werden.

Vor Jahrzehnten habe ich einmal auf dem Cover eines frommen Büchleins gelesen:

„Verschenke an allen Tagen eine stille Stunde an dich.
Die allem Besinnen entsagen, verlieren sich.“

Schon damals fand ich diesen etwas ungewöhnlichen Reim bedenkenswert. Heute nutze ich lieber das Wort „Spüren“ statt „Besinnen“. Denn wenn wir angesichts all der oben genannten Herausforderungen nur unseren Kopf bemühen, werden wir vielleicht endgültig verrückt. Es geht um unsere Sinne und die Beheimatung in einen Raum, in dem wir uns aufgehoben wissen dürfen, egal was kommt. Unser Leib öffnet uns dazu die Tür, unabhängig davon, wie alt oder jung wir sind. Allein das achtsame Atmen kann uns nachhause holen und dabei helfen, uns der tiefen Weisheit unseres Körpers anzuvertrauen. Es muss nicht gleich eine Stunde sein, aber viele kurze Momente am Tag summieren sich zu einem kraftvollen Schatz.

Schlussendlich geht es um das Üben, um ein Hineinwachsen in unser „Ganz-Da-Sein-Können“. Um in diesen Modus zu finden und ihn in herausfordernden Momenten schneller zu erinnern, helfen uns hie und da bewusste Oasenzeiten: Meditation, Exerzitien, ein Wüstentag, eine Zeit der Stille und des Hinhörens, eine Zeit ganz für mich und doch verbunden mit allem, was mich umgibt, herausfordert und immer auch trägt. Das alles vielleicht auch unterstützt vom tragenden Rahmen einer Gruppe. Singen. Beten. Feiern. Das Wichtigste, empfinde ich, ist unser Körper, verbunden mit Wegen der Spiritualität, die uns helfen, diesen wunderbaren Resonanzraum unserer Präsenz in der göttlichen Präsenz wach zu halten. Die Kirchenlehrerin Theresa von Avila gab dazu bereits vor 500 Jahren einen einfachen Rat:

„Tu deinem Leib Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen“.