Die Bilder vom Erdbeben in Syrien und der Türkei sind erschütternd. Das Beben reicht bis in unsere Herzen.
… aus dem Newslettter der Via Integralis Bonn … von Winfried Semmler-Koddenbrock

Besonders berührt hat mich das Bild eines Vaters, der auf den Trümmern saß und dort über viele, viele Stunden die Hand seiner toten, immer noch verschütteten Tochter hielt. Insbesondere die Menschen in den syrischen autonomen Gebieten sind weitgehend allein gelassen. Das Wichtigste wäre, die Grenzen im Erdbebengebiet zu öffnen und sichere humanitäre Korridore zu schaffen. Wasser, Stromgeneratoren, Ausrüstung für Medizinische Stützpunkte, Hilfe gegen die Kälte: all das ist da und könnte geliefert werden, sofern es sicherer Korridore gibt. Zugleich müssten dringend die Schwerverletzten durch diese Korridore in die Türkei und nach Europa gebracht werden, damit sie überleben können. Das ist auch eine Forderung an unsere Regierung und v.a. die Türkei als NATO-Bündnispartner.

In unseren langen Kontemplations-Kursen rezitieren wir jeden Morgen einen Ausrichtungstext, ein Absatz darin heißt:
„Zum Wohle leidender Wesen in Armut, Gewalt und Schmerz verkörpere ich Mitgefühl und traue der göttlichen Weisheit in mir.“

Das nimmt Bezug auf das erste der Vier Gelübde im Zen-Buddhismus:
„Die Lebewesen sind zahllos, ich gelobe, sie alle zu retten.“ Meine frühere Lehrerin Anna Myoan Gamma hat das jetzt neu übersetzt „Die Lebewesen sind zahllos, ich gelobe in Einheit mit allen zu leben.“

Alle Lebewesen retten? Das klingt überheblich und anmaßend und das ist doch auch gar nicht möglich. Der Satz ist nur verständlich, wenn wir ihn von der Einheitserfahrung her verstehen: Wir sind eins mit jedem leidenden und glücklichen Wesen, wir sind abhängig voneinander. Heil werden können wir nur miteinander, mit allen. Solange es nur ein leidendes Wesen gibt, bin ich auch nicht ganz heil. Und all das, was ich in mir zur Heilung bringe, hat Auswirkungen auf alle anderen, ja auf den ganzen Kosmos. Trotz dieser Erklärung finde ich die Neuübersetzung hilfreich.

Was heißt das, was in dem Ausrichtungstext der via integralis und dem buddhistischen Text steht, für mich als Winfried, was für uns in der BRD? Wir sind nicht getrennt, nicht untangiert. Das Erdbeben geht uns etwas an. Das betrifft die Herzens- und Emotionsebene, aber auch die Handlungsebene. Spenden ist da für viele noch eine relativ einfache Sache. Wir sind aber auch verwoben in die politischen Zusammenhänge von Besitzstandswahrung und Solidarität, verschlossenen Grenzen oder in bestimmten Fällen auch von durchlässigen Grenzen. Wie bei Klimawandel oder Armut und Reichtum geht es auch bei so einer Katastrophe um das Gesamte der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die Mächtige und Ohnmächtige in der Welt jeweils versuchen zu beeinflussen. Und wir sind weltweit gesehen eindeutig mehr auf der Seite der Mächtigen. Das ist für mich ein Stachel, der mich unruhig macht, wach macht. Daraus ergeben sich noch keine Patentrezepte, die es sowieso nicht gibt. Beide Texte sagen mir: Ich bin da mitten drin, und das allein ist schon schwer auszuhalten. Hans Bemmann lässt in seinem Roman Stein und Flöte den Großmagier sagen: „So wächst eine Schuld aus der anderen, und wenn man lange genug nachfragt, findet man schließlich auch die eigene. Auf irgendeine Weise hat man immer Teil an den Dingen, deren Zeuge man ist“ (Goldmann Verlag, 1992³, S. 438).

Neben der politischen Frage von Einflussnahme bleibt uns auf jeden Fall unser Mitgefühl, unsere innere Nähe und Verbundenheit. Und das Vertrauen auf die göttliche Weisheit in mir. Das heißt gerade nicht, dass ich das an Gottes Wirken delegieren kann. Sondern Gott will durch mich handeln. Das ist ein Aufruf, nach Innen zu hören. Was könnte die göttliche Weisheit in mir anstoßen und bewegen wollen?

Noch eine weitere Dimension: So wie ich eins bin mit der leidenden Kreatur, so bin ich auch eins mit der göttlichen Quelle von allem: bin eins mit der göttlichen Liebe, mit göttlicher Barmherzigkeit und Kraft. Vertrauen wir darauf, dass uns die Kraft zukommen wird, die wir brauchen, um all das auszuhalten und zu unsrem winzigen Teil zu beeinflussen. Vertrauen wir darauf, dass wir an ein grenzenloses göttliches Reservoir angeschlossen sind.

Winfried Semmler Koddenbrock, ktw

 

aus dem Newsletter 35 der Via Integralis Bonn

 

Kontakt- und Rückmeldeadresse für Newsletter und Blog:

  • Für Rückmeldungen zum Newsletter und dem Blog-Dialog, die veröffentlicht werden dürfen (bitte dabei angeben, unter welchem Namen oder unter N.N.): blog@viaintegralis-bonn.de
  • Für Rückmeldungen an mich persönlich ist die Emailadresse auf der Webseite unter dem letzten Reiter „Über uns / Kontakt“ zu finden.
  • Webseite: www.viaintegralis-bonn.de