Diese Frage Gottes (Gen 3,9) beschäftigt mich gerade als Schlüsselwort, als ein Bibelwort, das mich beim Meditieren begleitet, ohne dass ich darüber nachdenke. Auch der Krieg in der Ukraine fragt mich an.

Die Frage sickert aus der Meditation in mein Leben ein und von dort wieder zurück in die Meditation: Wo bist du ?

In der via integralis, in der ich Kontemplationslehrer bin, gehören der Weg nach Innen in der Kontemplation und der Weg nach Außen in den Alltag von Anfang an zusammen. So wurde ich schon durch die Gemeinschaft in Taizé geprägt: „Kampf und Kontemplation.“ Ich verstehe mein tägliches Meditieren und meine Tätigkeit als Kontemplationslehrer auch stark politisch, nicht parteipolitisch, aber im Sinne einer Wachheit, was braucht die kleine und große Welt von mir? Wozu sind wir da?

Wenn wir meditieren, erschließt sich uns mit der Zeit eine Erfahrung der Einheit von allem mit allem. Diese Erfahrung der Mystiker aus allen Religionen wird bestätigt durch die moderne Physik. Albert Einstein: Der Mensch „erfährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle, als etwas von allem übrigen Getrenntes – eine Art optische Täuschung des Bewusstseins“ (Ken Wilber, Mut und Gnade, München 1996, S.31). Wir sind nicht isolierte, abgegrenzte Wesen. In der Tiefe sind wir eins mit allem, mit allen Wesen, mit dem göttlichen Geheimnis.

Das prägt sich mir ein beim Sitzen auf dem Meditationskissen. Weg nach Innen. Was heißt: Ganz präsent sein? Ganz da sein? Mich wahrnehmen, jetzt. „Wo bist du?“ Hier, Gott, auf meinem Kissen, manchmal in Gedanken, manchmal ganz still im Atem, im Körper, die Stille wird auf einmal lauter. Ich komme heim, schöpfe Kraft, empfange Impulse. Wer bin ich eigentlich? Ich lerne mich immer mehr kennen, meine Impulse, meine Energien, meine Wünsche und Widerstände, meinen Körper, der nach einer Weile sich vielleicht verspannt. Bin ich dieses hauptverkapselte Ich, von dem Pia Gyger öfters sprach? Offensichtlich nicht, ich bin viel mehr als das.

Was heißt das gerade jetzt, in der Kriegssituation?
Schau nicht weg! Ich spüre das unermessliche Leid der Menschen, bin eins mit den Menschen in Mariupol, in Cherson. Ich bin eins mit Säuglingen und Großmüttern, mit Soldat:innen und Sanitäter:innen, mit Opfern und Tätern, mit – ich wage es kaum zu spüren – mit Wladimir Putin. Puh. In der Präsenz ist alles da. Auch das heißt präsent sein: Zeugnis in der Stille abgeben für die Menschen, die schrecklich unter dem Krieg leiden. Sie nicht vergessen. Ich bin nicht getrennt von all dem.

Das prägt sich mir aus im Alltag: Wo bist du? Ich zeige mich im Alltag, ich muss mich nicht verstecken. Ich stehe zu mir, zu meiner Verantwortung, auch zu meinen Fehlern. Manchmal bin ich im Alltag in Gedanken, eigentlich ganz woanders. Und manchmal bin ich ganz da, präsent, beim Putzen, beim Gestalten der Webseite, beim Zuhören, beim Lieben. Einssein ist konkret. Beim Einkaufen bin ich eins mit allen, die auf der Welt an diesem Produkt oder Nahrungsmittel beteiligt sind.

Und schließlich die Frage: Wo bist DU, Gott? Wo bist DU in den Menschen in diesem Krieg oder in unserer Nachbarschaft oder unseren Krankenhäusern? Kein machtvoller Arm, der eingreift. Und doch ahne ich Dich, auch in dem Grauen, in allen Menschen und Wesen, aushaltend, mitempfindend, mitleidend. Ich sehe Dich in den Flüchtlingen, Kindern und Frauen, die jetzt bei uns anklopfen, auch in den anderen z.B. aus Syrien. Ich sehe Dich in einer unerwarteten freudigen Begegnung oder in der Not eines Nachbarn. Wo bist du? Kontemplatives Leben heißt: Ich-bin-da! Wach sein. Kontemplativ leben heißt zu wissen, dass der Friede bei mir anfängt, in meinem Herzen, im Wahrnehmen und Befrieden meiner Gefühle und meiner Beziehungen, in meinem Alltag, im Frieden-Finden in meinem Grund. Jede und jeder wird gebraucht!

Winfried Semmler-Koddenbrock, ktw