Ein spirituell-politischer Beitrag von Winfried Semmler-Koddenbrock angesichts des Krieges.

Anfang November ’23 war ich fünf Tage im Sesshin. Im Schweigen bewegte mich das Leid der Menschen in Israel und Palästina nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober und dem seitdem wütenden Krieg in Gaza. Er dauert bis heute. Ich spüre in meinem Körper das Leid der Geiseln, der bedrohten Palästinenser:innen und die Wut beider Seiten. Mich bewegen wachsender Hass und sich zuspitzende Polaritäten in unserem Land: entweder für Israel oder für Palästina, das Tabu der Kritik an Israel, welche schnell als antisemitisch bewertet wird. Aber auch die Drohungen und Angriffe gegen jüdische Mitbürger bei uns oder die Einseitigkeit von Pro-Palästina-Demos und von Stellungnahmen, die den Terror der Hamas ausklammern. Ich nahm meinen inneren Impuls während des Sitzens zu einer gemeinsamen Initiative der Religionen in Bonn wohl wahr, traute mich aber nicht, so etwas zu initiieren. Zu groß war meine Sorge, dass dann viel zu viel in meinem eh ausgefüllten Leben an mir hängen bleiben würde. Dann kam der Impuls von außen, über die Oberbürgermeisterin und die alten interreligiösen Kontakte aus meiner Berufszeit. Am 30.11. trafen wir uns das erste Mal und gründeten mit Juden, Christen, Muslimen und Buddhisten eine „Bonner Initiative für Respekt und Zusammenhalt“.

Mit einem „Zeichen für Zusammenhalt“ standen wir dann am 04.02.24 vor 600-800 Menschen auf dem Bonner Marktplatz auf der Bühne. Acht Menschen gaben ein kurzes, existenzielles Statement ab. Eine Jüdin formulierte: „Es tut mir weh, dass palästinensische Menschen, die wir gebeten haben, hier mit uns zu sein, das nicht wollen, weil sie Respekt und Zusammenhalt – auch gegen israelische Gewalt in Palästina – in Deutschland vermissen. Wenn ihnen der Mund verboten wird, mit dem Argument, es diene meiner Sicherheit als Jüdin, dann nicht in meinem Namen.“ Und ein junger aus Syrien geflohener Palästinenser berichtete, dass seit seiner Flucht nach Deutschland 2015 seine Identitätsfragen langsam kleiner wurden. „Ich begann mich als globaler Mensch zu fühlen. Mein Blick weitete sich, und ich erkannte das Land anderer Menschen. Insbesondere die lange Geschichte der Juden in Deutschland hat mich tief berührt und mir ein neues Verständnis vermittelt.“ Die Menschen lauschten gebannt und berührt.

Musik, Lieder, insbesondere unser Rahmenlied “Wer ist wir?“ (Ausschnitt am Schluss), wechselten sich mit Wortbeiträgen ab. Die eineinhalbstündige Veranstaltung, die mehr einer säkularen Liturgie als einer Kundgebung glich, endete mit einem multireligiösem Gebet der abrahamitischen Religionen. Als der von einer Muslima gesungene Gebetsruf mit dem „Allahu akbar“ (Gott ist größer) in den Himmel und die Bonner Öffentlichkeit stieg, dachte ich: „Wow, was für ein mutiges Zeichen für Wertschätzung der Vielfalt setzen wir hier.“ Die Veranstaltung endete mit dem gesungenen jüdischen Totengedenken. Wir verbanden uns mit den Toten dieses und vieler anderer Kriege in der Welt.

In den gut zwei Monaten zwischen Gründung und Veranstaltung lag unendlich viel Arbeit, uns auf einen Basistext* für unsere Aktion zu einigen und die Veranstaltung selbst vorzubereiten. Die meiste Energie und einige schlaflose Nächte kosteten mich die Prozesse innerhalb der Initiative. Bis zum letzten Tag (!) gab es immer wieder Konflikte um das, was wir sagen wollen, sagen müssen oder was wir nicht sagen können. Kann man den Satz auf der Bühne sagen: „Aus meiner Sicht sind Gräueltaten von Israel und Hamas im gleichen Maße zu verurteilen“? Ja, als Palästinenser ist das eine berechtigte Sicht. Und eine andere Jüdin angesichts der Realität in Deutschland: „Man verschweigt seine jüdische Abstammung und wird retraumatisiert.“ Mehrmals waren wir kurz davor, aufzugeben. Wir haben gerungen und uns alle dadurch verändert. Das wichtigste Zeichen war vielleicht, dass wir diese unterschiedlichen Sichtweisen gemeinsam ausgehalten haben. Ich bin sehr berührt, dass uns das gelungen ist.

Für mich war das via integralis konkret: Welcher Weg zueinander ist möglich, wenn beide Seiten so verletzt, ja traumatisiert sind? Wie können wir das Leid der anderen wahrnehmen? Was bedeutet es, diese schreckliche Situation aus der Haltung des Nicht-Wissens und des integralen Bewusstseins anzuschauen und damit umzugehen? Ich erlebte mich konkret geführt. Ein inneres Gehorchen-Müssen in und durch die Konflikte, zugleich dabei offen bleiben. Schaffen wir es Einheit in der Tiefe und Vielfalt und Konflikthaftigkeit in der Außenwelt zusammen zu bringen?

„Zum Wohle leidender Wesen in Armut, Gewalt und Schmerz
verkörpere ich Mitgefühl und traue der göttlichen Weisheit in mir.“
(aus dem Ausrichtungstext der via integralis)

Nicht nur bei diesem Thema „Israel und Gaza“ bin ich besorgt über gesellschaftliche Tendenzen zur Kommunikation vorrangig in der eigenen Blase oder zu Besserwissen. Auch ich bin davon betroffen. Ich merke, dass ich sprachfähiger und mutiger werde, wenn ich mich auch da in Kontakt mit Andersdenkenden traue. Nach der Großveranstaltung wollen wir als Initiative weitermachen, zukünftig mit kleineren Aufgaben. Wir werden uns demnächst mit dem Partnerschaftsverein Bonn-Ramallah treffen – und vielleicht zusammen mit dieser Gruppe den auf der diesjährigen Berlinale ausgezeichneten Film „No other Land“ in einem Kino zeigen und zum Gespräch einladen. In dem Dokumentarfilm geht es um die Vertreibung von Palästinenser:innen aus einem Dorf im Westjordanland.

„Wer ist ‚wir‘, wenn uns’re Glaubensbrüder, -schwestern
einander nur als Feinde kennen, als Gefahr?
Wenn sie der tiefe Schmerz von heute und von gestern auseinanderreißt,
wie sollen wir uns dann verbunden fühlen?
Vielleicht bleibt uns dann nur der Satz: ‚Ich kann dich seh’n‘.“
(aus unserem Lied: „Wer ist wir?“)

Über diesen Link sind weitere Informationen zugänglich:

https://interreligioeser-rundbrief.blogspot.com/2024/01/bonner-initiative-fur-respekt-und.html

 

 

 

 

Winfried Semmler-Koddenbrock

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