Überflutet

Das ist los! singt Herbert Grönemeyer in seinem neuesten Album. Er beschreibt eine Welt, die uns mit einer überwältigenden Gleichzeitigkeit von Ereignissen konfrontiert.  Längst erscheint es uns normal, auf unzähligen Kanälen zu unzähligen Themen gleichzeitig informiert, unterhalten, abgelenkt, provoziert, belehrt, und beschallt zu werden. Die Fülle von Nachrichten, Katastrophen, Urlaubsbildern, Fake-News, Katzenvideos, Shopping-Angeboten, Blogs, Whatsapp- oder Push-Nachrichten ist beeindruckend. Und sie ist überfordernd, einmal mehr, weil wir dazu neigen, schlechte Nachrichten überproportional stark aufzunehmen.

Abgelenkt

Im Buch „Abgelenkt“ von Johann Hari heißt es, die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne von Studierenden und Büroangestellten in den USA betrage nur noch ein bis drei Minuten. Länger schaffe niemand, sich ohne Ablenkung auf eine Aufgabe oder ein Thema zu konzentrieren.  In einer Podiumsdiskussion deutet dies der amerikanische Schauspieler und Musiker Bo Burnham als die zwingende Folge einer Medienwelt, die unsere menschliche Aufmerksamkeit benutzt, um daraus Geld zu machen. „Wahrheit“ sei dadurch für viele kein Begriff mehr: alles scheint verfügbar, veränderbar, relativ und unverbindlich. Gepaart mit dem permanenten Griff nach Aufmerksamkeit führe das zu Überforderung, Ironie und Zynismus.

Weniger ist mehr

Aufmerksamkeit erweist sich als begrenzte und äußerst schutzbedürftige Ressource. Wir brauchen sie, um Wissen wirklich aufnehmen zu können. Johann Hari machte es sich zur Aufgabe: „Lerne, innerhalb der Grenzen Deiner Aufmerksamkeitsressource zu leben!“. Wir brauchen die Fähigkeit, konzentriert bei einer Sache zu bleiben, nicht im Sinne einer Leistung, sondern als Ausrichtung, damit sich unsere Gedanken ohne Ablenkung hin zu einem kreativen, spielerischen Denken und Schaffen entfalten können. So spüren wir unseren Lebensfluss auf, wagen ihm zu folgen, erfahren uns lebendig und wirksam.

Johann Hari wählt dafür einen radikalen Weg und lebte einige Monate ohne jeden Internetzugang. Dabei erschließt sich ihm eine regelrechte Auferstehungs- und Befreiungsgeschichte: er kann nach langer Zeit wieder die Sonne sehen und entdecken, was es heisst, sich ganz in der Lebendigkeit des Moments wiederzufinden.

Ignorieren als Kompetenz

Ähnliches mag uns gelingen, wenn wir den Vorschlägen der Studie „Kritisches Ignorieren als Kernkompetenz für digitale Bürger“ folgen. Sie empfiehlt Disziplin und Selbstkontrolle im Nutzen von Smartphone und Co. Wer einem Zuviel, vor allem dem Zuviel an irreführenden Informationen vorbeugen will, sollte sich zur Gewohnheit machen, immer zuerst die Quelle zu prüfen: wer sind Autoren und Website, wie sind sie einzuordnen? Das klingt aufwändig, ist es aber nicht, denn wer Nachrichten nur aus ihren Inhalten heraus beurteilen will, muss lange recherchieren und wird mit jedem Klick auch jene Informationen verstärken, die der eigenen Überzeugung widersprechen.

Hilfreich scheint mir auch der Tipp, nicht auf unangemessene Provokationen zu reagieren („do not feed the trolls“). Wir sollten den Zeit- und Aufmerksamkeitsdieben im Netz nicht auf den Leim gehen, indem wir versuchen, sie zu widerlegen oder unsererseits mit Provokation reagieren. Kritisches Ignorieren heißt vielmehr: entscheiden und nähren, was dem Leben dient und unser Bewusstsein wach hält für unser schöpferisches Potenzial in Verbundenheit mit der Welt.