Die Balance aktiv halten

Enorme Hitze in völliger Dunkelheit. Ich sitze eng zusammen mit anderen Teilnehmern auf der Erde im Kreis. Wir sind leicht bekleidet, in der Mitte der kleinen Kuppel, unter der wir sitzen, liegen glühend heiße Steine, die draußen in einem großen Feuer erhitzt wurden. Der Leiter des Rituals gießt regelmäßig Wasser darauf und steigert die Hitze und Energie damit zusätzlich. Dazu Gesänge und Gebete in der Sprache der Lakota.

Regelmäßig besuche ich indianische Schwitzhütten, die ganz in der Tradition der Lakota-Indianer gestaltet sind.

Diese Tradition wurde vor allem durch den Lakota Häuptling Archie Fire Lame Deer in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts nach Europa gebracht. Einige seiner damaligen Schüler und Weggefährten lehren diese Tradition bis heute weiter und pflegen häufig auch lebendige Kontakte zu den in Amerika lebenden Lakota Familien.

Die Intensität des Rituals, seine Naturverbundenheit und archaische Färbung bieten einen Erfahrungsraum, der sich unmittelbar über die Sinne öffnet: Hitze, Feuer, Wasser, auf der Erde sitzen, Dunkelheit, Enge, Schwitzen… Es gilt einerseits, loszulassen und in die Intensität des Rituals einzutauchen, andererseits braucht es volle Aufmerksamkeit und Entschiedenheit, die tatsächlichen körperlichen Grenzen wahrzunehmen, Emotionen wahrzunehmen und zu achten, die Balance aktiv zu halten.

Die Aufgabe besteht dabei auch darin, mich vom archaisch-exotischen Erleben nicht einnehmen zu lassen, sondern darüber hinaus, oder vielleicht eher, darunter hinab zu gehen. Die Schwitzhütte ist eine Einladung zur Reinigung und zum Gebet. Sie wird immer als Gruppe gemeinsam begangen, begleitet von einem Leitenden in der Hütte und einem Feuerwächter außerhalb. Als weitere „Gruppe“ sind unsere Vorfahren, Freunde, Vertraute und Kinder im Bewusstsein präsent, werden innerlich mitgetragen, in ihrem Dasein auch benannt.

Dem Ritual nach ist es eine Rückkehr in den Bauch der „Mutter Erde“, um von dort aus wieder neu geboren zu werden. Was bringe ich mit in diesen Raum?  Welche Neugeburt lasse ich zu, welche Schöpfung kann sich in mir neu erschaffen und lebendig werden? Hier passiert mitunter das Überraschende. Ich komme mit meinen Wünschen und Sehnsüchten in Kontakt, spüre meine Kraft oder Erschöpfung. Manchmal zeigen sich Verbundenheit, Glück oder Ängste in großer Deutlichkeit. Manchmal fließen Tränen. Manchmal muss ich die Hütte frühzeitig verlassen, um mich körperlich oder psychisch nicht zu überfordern.

Der Weg hinaus geht durch einen engen Durchgang. Draußen Frische, neue Luft zum Atmen, Trinken, Ausruhen, dann die Lebendigkeit und Erdverbundenheit spüren.

Mose erkannte vor dem brennenden Dornbusch, dass er auf heiligem Boden steht und zog sogleich seine Schuhe aus. Ohne mich mit Mose gleichsetzen zu wollen, spüre ich in und um die Schwitzhütte dennoch, dass auch ich auf heiligem Boden stehe. Wenn nun dieser Boden heilig ist, welcher wäre es dann nicht? Wenn ich mir in der Schwitzhütte die mütterliche Kraft der Erde und die Verbindung mit dem Göttlichen bewusst mache und mich von ihnen inspirieren lasse, wie gehe ich dann meinen weiteren Weg in der Welt?

In der Sprache der Lakota gibt es den Ausdruck „Mitakuye Oyasin“, was so viel heißt wie „alle meine Verwandten“. Gemeint sind wir alle, zusammen mit aller Lebendigkeit und Schöpfung. Mit diesem Begriff betrete und verlasse ich die Schwitzhütte. Mit diesem Begriff verdeutliche ich mir auch die Verbindung in meinen Alltag hinein: dieser Boden ist heilig, wir sind alle verbunden. „Mitakuye Oyasin“!