Unermüdlich im Gespräch mit Gott: Etty Hillesum (1914 – 1943)

Vor Jahren erhielt ich als Geschenk «Das denkende Herz. Die Tagebuchaufzeichnungen von Etty Hillesum 1941-1943. Immer wieder greife ich zu diesem Buch, weil mich der Weg dieser jungen Frau fasziniert. Ist das wirklich möglich? Unter größter Bedrängnis und Bedrohung leben und sich dennoch in einem weiten Raum aufgehoben und befreit fühlen?

Etty Hillesum, gebürtige Jüdin aus Amsterdam, Tochter einer Russin und eines Niederländers, war studierte Juristin und Slawistin. Als die Nazi-Besatzung 1942 ihrem gerade begonnenen Psychologie-Studium ein Ende setzte, begann sie im Durchgangslager Westerbork den Wehrlosen zur Seite zu stehen, die nach und nach in die Züge Richtung Osten verfrachtet wurden, insgesamt mehr als 100.000 Menschen. Mehrmals hatte Etty die Gelegenheit, unterzutauchen oder zu fliehen. Doch sie will helfen bis zum Schluss. Sie bleibt, bis sie am 7.9.1943 (vor fast genau 80 Jahren) selbst in den Zug nach Auschwitz steigen muss. Im Rucksack hat sie ein russisches Wörterbuch, das Stundenbuch von Rilke und die Bibel und ahnt, dass sie nicht mehr viel Zeit zum Lesen haben würde. Am 30.11.1943 wird sie im KZ ermordet.

Von März 1941 an schreibt Etty Tagebuch, mehrere hundert Seiten werden es. Sie sieht sich als Chronistin des Zeitgeschehens: «Man ist auf unsere völlige Vernichtung aus, damit muss man sich in seinem Leben abfinden und dann geht es wieder weiter (…) Ich arbeite und lebe mit der gleichen Überzeugtheit weiter und finde das Leben sinnreich, trotzdem sinnreich. » (3.7.1942). Immer dichter offenbart sich dabei der Weg einer modernen Mystikerin auf ihrer Suche nach Gott. Etty fragt nicht «Wo ist Gott» in der Hoffnung auf eine Rettung von aussen. Sie entdeckt Gottes Wirken in sich selbst,  erkennt sich als «das denkende Herz der Baracke» und verspricht: «Ich werde dir helfen, Gott, dass du nicht in mir zugrunde gehst.»

Betend findet sie zum «Brunnen in sich» und will Zeugnis ablegen, dass das Leben schön und sinnvoll ist. Und: dass es nicht Gottes Schuld ist, dass alles so gekommen ist, sondern die Schuld der Menschen: «Uns ist die Möglichkeit gegeben, alle unsere Fähigkeiten zu nutzen, aber wir müssen noch lernen, mit unseren Möglichkeiten umzugehen. (…) Ich schaue und schaue, und begreife immer mehr, und ich werde innerlich immer friedvoller; in mir ist ein Vertrauen auf Gott, das mich zunächst durch sein rasches Wachstum fast ängstigte, das mir nun aber immer mehr zu eigen wird.»

Im Juli 1942 schreibt sie: «Es sind schlimme Zeiten, mein Gott. Heute Nacht geschah es zum ersten Mal, dass ich mit brennenden Augen schlaflos im Dunkeln lag und viele Bilder menschlichen Leidens an mir vorbeizogen. Ich verspreche dir Gott etwas, nur eine Kleinigkeit: ich will meine Sorgen um die Zukunft nicht als beschwerende Gewichte an den jeweiligen Tag hängen, aber dazu braucht man eine gewisse Übung. Jeder Tag ist für sich selbst genug. Ich will dir helfen, Gott, dass du mich nicht verlässt, aber ich kann mich von vornherein für nichts verbürgen. Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. … Ich werde im Gespräch mit dir ruhiger. Ich werde in der nächsten Zeit noch sehr viele Gespräche mit dir führen und dich auf diese Weise hindern, mich zu verlassen…».

Welche Hingabe und welch Ermutigung, nicht müde zu werden!