Embodiment

Der Körper als Schlüssel zu spirituellen Erfahrungen

Viele gläubige Menschen finden Trost in schwierigen Zeiten in der Bibel, z.B. im Psalm 23. Die Hirnforschung hat gezeigt, dass gelebte Spiritualität positiv auf das Nervensystem und die Fähigkeit zur Stressregulierung wirkt. Aber wie ist es umgekehrt: Können Körpererfahrungen spirituelle Erlebnisse fördern? Als Psychotherapeutin treibt mich diese Frage schon lange um, begegnen mir doch viele Menschen, die sich damit schwertun, in ihrer seelischen Krise einen Zugang zum Glauben zu finden. In diesem Zusammenhang finde ich den Ansatz des sog. „Embodiment“ sehr spannend.

Auf berührende Weise durfte ich in meiner Arbeit erleben, wie sich über den Körper eine Tür zu spirituellen Tiefenerfahrungen öffnet, so z.B. bei Karl*, einem 68- jähriger Mann, der wegen Depressionen in meine Praxis kam. Karl spricht in einer Sitzung davon, wie sehr er sich durch die gegenwärtigen politischen Krisen aufgewühlt und haltlos fühlt. Schon lange bemühe er sich um eine spirituelle Beheimatung, bisher leider ohne Erfolg. In der Kindheit habe er eine strenge religiöse Erziehung erlebt. Auch der Pfarrer in der Schule habe mit der Hölle gedroht. Aufgrund dieser negativen Erfahrungen hege er tiefes Misstrauen gegenüber kirchlichen Lehren und Autoritäten. Während er das erzählt, kommt er in Kontakt mit einer tiefen Traurigkeit, der er körperlich Ausdruck verleihen kann.

Nach einiger Zeit des Weinens nimmt Karl sein Herz wahr und spürt, wie es sich immer mehr öffnet. Karl spürt eine strömende Wärme, die seinen ganzen Körper mit lebendiger Energie erfüllt. In vollen Zügen kann er dieses Strömen in seinem Körper genießen. Es braucht einige Zeit, bis er Worte findet: „Ich bin in Kontakt mit dem Lebensstrom selbst, der alles Leben miteinander verbindet.“ Auch ich spüre die Präsenz des Heiligen in diesem Moment. Es bilden sich in mir die Worte: „Das Leben feiert sich selbst in uns und allem Lebendigen“.

Nach einiger Zeit der gesammelten Präsenz kommen Karl erneut Tränen. Karl spürt in seinem Körper ein Zittern und Beben und es bricht aus ihm ein tiefes Schluchzen hervor, das sich langsam zu einem sehnsuchtsvollen Wunsch formt: „Ich würde so gerne immer diese innere Verbindung spüren können, sie gibt mir ein Rückgrat und einen inneren Halt, den ich so noch nie gespürt habe“.

Vor meinem inneren Auge taucht die Begegnung Jesu mit der Frau am Jakobsbrunnen auf. Jesus offenbart in dieser biblischen Erzählung der Frau im Symbolbild vom lebendigen Wasser, dass Gott ihre – und unsere Sehnsucht – nach Heil und Leben erfüllen wird.

Ich erzähle Karl diese Bibelstelle.  Daraufhin ist die seelisch-körperliche Entspannung bei Karl zum Greifen spürbar. Wir sitzen noch einige Minuten schweigend beisammen bis Karl unsere Sitzung mit den Worten beendet: „Noch nie habe ich einen solchen tiefen Frieden in mir gespürt, ich glaube, jetzt bin ich angekommen, das Misstrauen ist Vertrauen und tiefer Dankbarkeit gewichen. “

Der geschilderte Prozess kann selbstverständlich auch außerhalb von Therapiesitzungen stattfinden. Es braucht dazu lediglich den Mut und die Geduld, mit der Aufmerksamkeit ganz in unsere Körperwahrnehmung einzutauchen, zum Beispiel im Anschluss an eine Meditation oder eine Bibelarbeit. Ein bestimmtes Wort oder religiöses Symbolbild kann organische Prozesse in Gang setzen, die uns den Kontakt zu tieferen Seelenschichten ermöglichen. Probieren Sie es am besten selbst aus, entweder alleine oder auch gemeinsam mit anderen.

 

*Name von der Redaktion geändert

Zum Schluss noch ein Literaturhinweis für alle, die sich für körperorientierte spirituelle Arbeit interessieren:
Maja Storch u.a.: Spirituelles Embodiment.
Stimme und Körper als Schlüssel zu unserem wahren Selbst. München 2021.